Franziska Augstein: Winston Churchill; Montage: radio3
Bild: Deutscher Taschenbuch Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Mai 2024

Eine höchst unterhaltsame, detailreiche und auf informative Weise geschriebene Biografie führt die Sachbuch-Bestenliste im Mai an: "Winston Churchill" von Franziska Augstein. Churchills politische Karriere entfaltete sich in einer Zeit größter globaler Ungleichheit. Passend dazu, widmen sich zwei weitere Titel gravierenden Veränderungen der Weltordnung.

Jüngst hat einer unserer Politiker die Frage gestellt, welcher Art von Politik wir folgen wollen, derjenigen von Chamberlain oder derjenigen von Churchill. Ihm ging es also um die Alternative Appeasement oder Angriff, sich ducken oder sich aktiv wehren. Die wehrhafte Seite wird natürlich immer mit Winston Churchill verbunden, und in Hinblick auf seine Haltung gegenüber Nazideutschland auch zurecht. Aber war Churchill wirklich der aufrechte Kämpfer für die Freiheit?

Das zu beantworten ist nicht leicht, denn Churchill war ein Verfechter des britischen Empire und, zumindest in jungen Jahren, ein Fan kriegerischer Bewährungen. All das kann man nun in der ersten deutschsprachigen Biografie seit 1967 lesen. Die Journalistin Franziska Augstein hat sie auf höchst unterhaltsame, detailreiche und informative Weise geschrieben und hat, als deutsche Autorin, den großen Vorteil, nicht von vornherein Partei für oder gegen den großen britischen Staatsmann beziehen zu müssen.

Churchills Charakter war widerspruchsvoll, und das, was wir aus den frühen Jahren von ihm erfahren, galt offenbar lebenslang: "Ich musste mich gut benehmen" zitiert Augstein den damals gerade mal 22-jährigen: "pünktlich sein, respektvoll, zurückhaltend; kurz, ich musste alles aufbieten, was ich an Vorzügen nicht habe" (S. 61). Und schon in diesem Satz spürt man, welch brillanter und sehr englischer Rhetor er war. Seine hierzulande bekanntesten Sätze, nach denen er "außer Blut, Schweiß und Tränen" nichts zu bieten habe, sind geflügelte Worte.

War Churchill, der mehrfach die Parteien wechselte, ein politischer Opportunist? Das mag sein. Auf jeden Fall war er ein zutiefst vom britischen Parlamentarismus überzeugter Mann – daran lässt Franziska Augstein keinen Zweifel.

Tara Zahra: Gegen die Welt; Montage: radio3

Aus der Zwischenkriegszeit lernen

Churchills politische Karriere begann vor dem Ersten Weltkrieg und entfaltete sich in einer Zeit größter globaler Ungleichheit. Diese Zeit und ihre Wirklichkeit nimmt die amerikanische Osteuropa-Expertin Tara Zahra in den Blick. Ihre Analyse von "Nationalismus und Abschottung in der Zwischenkriegszeit" beschreibt eine "Revolte gegen die Globalisierung", die sie als Folge zweier Entwicklungen erkennt: "der beschleunigten Globalisierung nämlich und der Massenpolitik" (19).

Offenbar setzte nach dem Zusammenbruch der Weltordnung am Ende des Ersten Weltkrieges eine Flucht in vermeintlich sichere Zonen innerhalb nationaler Grenzen, in politische und organisatorische Basisbewegungen etc. ein. Abschottung, Autarkie waren die Maßstäbe, an der sich die neu formatierenden Gesellschaften orientierten.

All diese Strömungen zeichnet Tara Zahra in ihrem Buch "Gegen die Welt" nach, und wir fühlen uns aufgefordert, die Symptome gegenwärtiger Anti-Globalisierung-Bedürfnisse in unserer Gegenwart zu erkennen, zu benennen und zu analysieren.

Marina Münkler: Anbruch der neuen Zeit; Montage: radio3
Bild: Verlag Rowohlt Berlin

Veränderungen der Weltordnung sind Zerreißproben

Es ist vielleicht dieses aktuell wachsende Gefühl der Auflösung einigermaßen stabiler Weltordnungen, das vermehrt zur Suche nach Epochen führt, die ihrerseits durch Umbrüche gekennzeichnet waren. Fündig wurden erstaunlich viele Historikerinnen und Historiker im Zeitalter zwischen dem Ausgang des Mittelalters und dem Beginn der Neuzeit, also grob umrissen zwischen 1400 und 1800.

Je nachdem, unter welchem Aspekt man diese Epoche betrachtet, erkennt man den Übergang vom "dunklen" Mittelalter zur "lichten" Aufklärung, vom feudalistischen zum imperialen Herrschaftssystem, als Entdeckung der "neuen Welt" und damit erster Globalisierungserscheinungen etc.

Die Historikerin Marina Münkler beschreibt den Umsturz des Bestehenden und den "Anbruch der neuen Zeit" als ein großes Drama – und wir lernen: Veränderungen der Weltordnung sind Zerreißproben für alle Gesellschaften, gestern wie heute.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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